Hof statt Heim

Hof statt Heim


Viele Pflegeeinrichtungen sind überfordert, viele Landwirte brauchen einen Nebenverdienst. Eine mögliche Lösung: Bauernhöfe steigen in die Betreuung von Demenzkranken ein. 

von  Tomma Schröder 


Gerade hat sich Ilse Olf mühsam aus dem Kleinbus gearbeitet. Sie schaut in die weite Landschaft. „Sind wir in Amerika?“, fragt sie und lächelt dabei verschmitzt. Es ist nicht ganz klar, ob sie scherzt oder es ernst meint. Ilse Olf ist demenzkrank und heute zu Besuch auf einem Bauernhof im schleswig-holsteinischen Behrendorf. Helfer holen einen Rollator, einen Rollstuhl und Gehstöcke aus dem Kleinbus und verteilen sie an Olf und drei andere Demenzkranke. Der Landwirt Dieter Wohlert winkt den Gästen vom Trecker aus zu, Hofhund Lenni läuft aufgeregt hin und her. Es ist ein sonniger Nachmittag, eine Bauernhofidylle wie aus dem Bilderbuch. Aber Ilse Olf zögert: „Ich weiß nicht, wo ich bin. Was sollen wir hier?“


Der Betrieb von Familie Wohlert ist einer der ersten „Demenzhöfe“ in Deutschland.

Hier soll Demenzkranken und ihren pflegenden Angehörigen eine kurze Auszeit vom schwierigen Alltag ermöglicht werden. „Viele ältere Menschen, die für ein paar Stunden hierherkommen, sind selbst auf einem Bauernhof groß geworden oder haben auf einem gearbeitet“, sagt die Bäuerin Anke Wohlert-Thomsen. „Deshalb fühlen sie sich meist schon nach kurzer Zeit wohl, und vielleicht werden irgendwo auch alte Erinnerungen wach.“ 

Anke Wohlert-Thomsen hakt Ilse Olf unter und führt sie gemeinsam mit den anderen Senioren über ihren Hof. „Sieh mol, dor kümmt min Mann met de Trecker“, sagt sie auf Plattdeutsch, eine Sprache, mit der die meisten hier noch aufgewachsen sind. Als es zu den Kälbern geht, die draußen in ihren Boxen stehen, lebt eine Besucherin sichtlich auf. Die Frau im Rollstuhl, die bisher kein einziges Wort gesagt hat, steckt sofort ihre Hand durch das Gitter. Sie strahlt und schaut stolz zu den anderen, als das Kälbchen beginnt, mit der Zunge über ihre Hände zu lecken. Es scheint, als könnten beide Seiten das stundenlang so fortsetzen.


Liebevolle Umsorgung 

Im Wohnzimmer ist der Kaffeetisch gedeckt. Es gibt Torte, die Bäuerin leitet zu ein paar Spielen an und erzählt kleine Geschichten. Die Torte schmeckt sichtlich gut, doch die Spiele sind anstrengend, und das Gehör ist oft schon sehr schlecht. Ilse Olf und die anderen sacken zunehmend in sich zusammen. Wie gut, dass die Kaffeetafel nur das Vorspiel war. Denn nun werden Kuchen und Geschirr abgeräumt, und Anke Wohlert-Thomsen legt ein großes Tuch auf den Tisch. Nacheinander setzt sie ein Meerschweinchen und einige frisch geschlüpfte Küken darauf. Sofort kommt Bewegung in die Gesellschaft. Die Frauen streicheln, säuseln und tätscheln die Tiere, als wären es die eigenen Enkelkinder. „Jaja, piep piep, das weiß ich“, sagt eine Frau zu dem Küken in ihrer Hand.


Die Idee der Demenzhöfe

Die Idee der Demenzhöfe hat das Kompetenzzentrum Demenz in Schleswig-Holstein gemeinsam mit der Landwirtschaftskammer des Landes umgesetzt. Sie soll helfen, gleich zwei Probleme auf einmal zu lösen: Einerseits entstehen auf den Bauernhöfen Betreuungsmöglichkeiten für Demenzkranke, für die es oft an Personal und auch an Zeit mangelt. Andererseits können gerade kleinere landwirtschaftliche Betriebe so ein weiteres Standbein aufbauen.

Eigentlich sollten Bauern und Bäuerinnen von der Landwirtschaft leben können, sagt Maria Nielsen, die als Agraringenieurin und Krankenschwester die Anbieter von Demenzhöfen berät. Doch viele Bauernhöfe hätten sich längst zu Industriebetrieben entwickelt. Vorbei die Zeiten, in denen die Generation der Großeltern ihren Altenteil auf dem Hof bekam und, solange es irgend ging, die Hühner fütterte oder die Kartoffeln schälte.


Kann das neue Konzept gelingen?

Bauernhofferien oder Pflegeangebote sind da eine gute Möglichkeiten, etwas hinzuzuverdienen, ohne die bäuerlichen Werte zu verraten. Und vielleicht kann es mit dem neuen Konzept sogar gelingen, ein bisschen von der Wärme und Menschlichkeit in den modernen Bauernhofbetrieb und den durchgetakteten Pflegealltag hinüberzuretten.

Bisher zeigen sich alle Beteiligten von der Idee begeistert, und viele Ehrenamtliche engagieren sich für ihr Gelingen.


Die aktuelle Nachfrage

Mit dem Zuverdienst allerdings, der vor allem für jene Höfe wichtig ist, die im Wettbewerb um immer größere Ställe und Flächen ins Hintertreffen geraten sind, hapert es zur Zeit noch. Bisher seien es nur Pflegeheime, die mit ihren Bewohnern kämen. Die pflegenden Angehörigen, für die das Angebot in erster Linie gedacht war, melden sich bisher nicht. Ob es an der Hemmung liegt, die Angehörigen für ein paar Stunden in fremde Hände zu geben, darüber kann Anke Wohlert-Thomsen nur mutmaßen. Sie hofft, dass ihr Hof mit seinem speziellen Angebot nach und nach bekannter und stärker nachgefragt wird.

Doch bereut hat die Bäuerin es nie, dass sie ihren Hof Anfang des Jahres für Demenzkranke geöffnet hat. Sie schaut auf die alten Menschen, die sich liebevoll um die kleinen Tiere kümmern. Ilse Olf streichelt einem Küken vorsichtig über die flauschigen Daunen: „Du hast es doch gut hier! Und du kommst doch auch gleich wieder nach Hause“, sagt sie zu dem aufgeregten Tierchen - und vielleicht auch ein wenig zu sich selbst.


Der Zustad nach dem Ausflug 

„Von den Pflegekräften der Heime weiß ich, dass die Demenzkranken nach dem Ausflug auf den Bauernhof oft weniger gereizt und ruhiger waren.“ Auch körperliche Gebrechen können die Besucher oft einfach vergessen. „Wir leben dann ganz im Moment“, sagt Anke Wohlert-Thomsen. „Das sind einfach tolle, bewegende Erlebnisse.“ Auch wenn sie es so nicht äußern können, scheinen die Besucher des Hofes ähnlich zu fühlen. Sie sind zwar nicht in Amerika. Aber aufregend ist es allemal.

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